Half-Life: Alyx im Test

Man will es kaum glauben, aber nach fast 13 Jahren dürfen wir mit Half-Life: Alyx wieder in das lange Zeit verschollene Shooter-Universum eintauchen – SteamVR-kompatibles Headset von Index, Vive, Oculus & Co. vorausgesetzt. Hat es Valve allen Unkenrufen und (Teil-)Enttäuschungen der letzten Jahre auch als Spielentwickler immer noch drauf? Oh ja & verdammt, das Warten hat sich gelohnt!

Eines gleich mal vorweg: Alyx ist nicht Half-Life 3, nicht Half-Life 2: Episode 3 und will beides auch gar nicht sein. Es spielt fünf Jahre vor dem Tod von Alyx’s Vater Eli am Ende von Episode 2. Ja, wir verzichten bei dieser Info bewusst auf eine Spoiler-Warnung, denn a) ist Episode 2 eben schon 2007 erschienen und b) beginnt auch das Spiel selbst mit genau dieser Information. Alyx Vance, Sidekick in Half-Life 2 und seinen Episoden 1 & 2 ist eine junge Erwachsene, die unter der Alien-Herrschaft der Combine aufgewachsen ist. Einen gewissen Gordon Freeman kennt sie noch aus Kindertagen, der ist aber seit der Invasion der Außerirdischen vor einigen Jahren spurlos verschwunden. Zusammen mit ihrem Vater und einigen wenigen Verbündeten bildet sie den Grundstock einer langsam, aber stetig wachsenden Widerstandsbewegung. Diese scheint auch einen ersten kleinen Sieg gegen die Eroberer zu erringen, als es gelingt ein Stück außerirdische Technologie zu erbeuten. Doch die Reaktion ihrer Gegner fällt unvermutet heftig aus. Plötzlich findet sich Alyx auf der Flucht vor der geballten Macht der Combine wieder, während ihr Vater in Gefangenschaft landet.

Man schnuppert fast die Asche …

Wie von Valve und Half-Life gewohnt, bietet der Titel – trotz Shooter-Wurzeln – also durchaus eine Story und vor allem Atmosphäre noch und nöcher. Schon zu Spielbeginn wird gleich mal geklotzt und nicht gekleckert. Kaum schlüpft man in die (körperlosen) Handschuhe der Protagonistin steht man auf einem Balkon und blickt über die bekannte City 17, in Richtung der gewaltigen (aber noch im Bau befindlichen) Zitadelle. Wie beeindruckend das ist, können Worte und auch Screenshots – die ja immer nur die Sicht eines Auges zeigen und entsprechend ungewohnt „quadratisch“ ausfallen – nicht wirklich beschreiben. Fast schon kindliche Freude und Faszination macht sich dann nach und nach breit, wenn man beginnt mit der Welt zu interagieren und realisiert, an welch Kleinigkeiten gedacht wurde: das Päckchen Streichhölzer, das (an der richtigen Stelle) raschelt, wenn man es neben dem virtuellen Ohr schüttelt; die Fensterscheibe, die sich mit Whiteboard-Marker beschreiben, aber mit Finger oder Schwamm auch wieder abwischen lässt;  und natürlich die Nachbarskatze am Balkon zwei Stockwerke tiefer, die aufgeschreckt das Weite sucht, weil man eine Flasche lautstark zerschlägt. Die Half-Life-Wurzeln bedeuten natürlich viel Action, aber zwischendurch wird man auf diese und viele andere Arten immer wieder eingeladen, einfach nur zu (er)forschen und zu experimentieren.

Was die prinzipiellen Möglichkeiten von VR betrifft, revolutioniert man nicht, alles wirkt aber unglaublich ausgereift und beinahe bis zur Perfektion optimiert. Die Texturen sind aus der Nähe (fast) gestochen scharf, die Frameraten auch bei (für VR) Mitteklasse-Hardware absolut flüssig. Was die Fortbewegung betrifft, unterstützt man alle gängigen und beliebten Varianten. Wer zu Simulatorkrankheit neigt, kann via Teleportation bzw. Standortwechsel (eine schnelle, lineare Bewegung) seine Position ändern und die Kamera schrittweise drehen. Gehört man hingegen zu jenen Glücklichen, bei denen der Gleichgewichtssinn selten bis gar nicht rebelliert, kann man sich auch fließend via Controller bewegen und/oder auch die Kamera frei drehen. Ducken kann man sich „in Echt“ und auch Leitern kann man sich Hand über Hand hinaufziehen – alternativ erledigt das auch ein Knopfdruck. Einzig beim Springen vermeidet man vorsorglich reale Bewegungen, hier zeigt man dem Spiel via Controller-Geste, wo man gerne landen möchte.

Nicht ohne mein Brecheisen?

Früher oder später lassen sich Konflikte mit Combine-Soldaten und der menschenunfreundlichen Alien-Fauna in Form von Headcrabs und Zombies nicht mehr vermeiden. Wer jetzt hofft auch das ikonenhafte Brecheisen schwingen zu dürfen, wird leider enttäuscht. Alyx ist weniger martialisch als ihr männliches Gegenstück und verlässt sich lieber auf Pistole, Shotgun und später auch SMG. Tatsächlich hat man bei Valve lange überlegt, auch Nahkampfwaffen wie eben den roten Dauerbrenner einzubauen, war mit den verschiedenen Umsetzungsvarianten aber nie ganz zufrieden. Daher wird geschossen – ohne fixes Fadenkreuz, nach Augenmaß, über Kimme und Korn und später auch mit Ziellaser. Nachgeladen wird semi-manuell: Ein Tastendruck wirft das Magazin aus bzw. öffnet die Kammer. Über die Schulter in den virtuellen Rucksack gegriffen, holt man Magazin / Patronen / Energiezellen hervor und setzt diese(s) ein. Noch mal durchladen bzw. den Schlitten zurückziehen und schon kann das Feuergefecht weitergehen. Das funktioniert – allerdings erst nach etwas Training – auch in der Hektik des Kampfes gut. Im Notfall hilft auch ein Griff zu einer rumliegenden Granate. Scharfmachen und dann beherzt, aber mit Gefühl in Richtung Gegner werfen.

Magnetische Hände & ein Multitool für alle Fälle

Apropos Granatenwerfen: Alyx wäre kein echter Half-Life-Titel, wenn man mit der Physik der Spielwelt und ihren Bestandteilen nicht interagieren könnte. Neben den für geübte VR-Spieler offensichtlichen Möglichkeiten Objekte zu greifen, tragen, schieben usw. ist es vor allem ein Paar ganz spezielle Handschuhe, das schnell zu einem unserer wichtigsten Werkzeuge wird. Überhaupt nicht narzisstisch von ihrem Erfinder nach sich selbst benannt, sind die „Russells“ offensichtlich eine Zwischenstation bei der Entwicklung der Gravity Gun, die wir aus Teil 2 kennen. Mit der Handfläche in Richtung eines (nicht zu großen) Objekts deuten, mit dem Trigger fixieren und mit einer schellen Bewegung des Handgelenks fliegt das Objekt in Richtung Handfläche und kann elegant aus der Luft gepflückt werden. Das hilft enorm bei der Suche nach Munition und anderen Ressourcen und mit etwas Geschick kann man unachtsamen Gegnern sogar das eine oder andere Magazin oder die gelegentliche Granate aus der Ferne stibitzen. Außerdem kommt die Mechanik natürlich auch beim einen oder anderen Rätsel zum Einsatz und am aller Wichtigsten: Es macht einfach Spaß Dinge auf Kommando durch die Luft fliegen zu lassen.

Im Laufe des Spiels nicht minder wichtig, aber eine komplette Eigenentwicklung der jungen Widerstandkämpferin ist ihr Multitool. Dieses verfügt zwar weder über Schraubenzieher noch Nagelfeile, dafür punktet es im digitalen Bereich umso mehr. Verschlossene Behälter können geknackt, Minen entschärft und Stromkreise umgeleitet werden. Dabei muss meist eines von mehreren verschiedenen Mini-Games gelöst werden. Energiequellen müssen zum Beispiel so im virtuellen Raum platziert werden, dass ihre Energiestrahlen durch alle Knoten gehen. Ein anderes Mal ist es vielleicht notwendig mehrere Punkte einer drehbaren Kugeloberfläche zu verbinden – dummerweise wird aber ausgeblendet, was zusammengehört, sobald man einmal loslegt.

VR-Exklusivität ist Programm und kein Makel

Manche Diskussionen mag man irgendwann einfach nicht mehr führen: PC vs. Konsole, Konsole vs. Konsole, Casual vs. Hardcore … Beim Thema VR werden zum Beispiel oft und gerne die preis- & platzbedingte Existenzberechtigung an sich bzw. die ach so schlechten Aussichten für den Massenmarkt immer wieder durchgekaut. Noch einmal zum Mitlesen: Niemand, wirklich niemand, der sich *ernsthaft* mit dem Thema VR-Gaming auseinandersetzt, nimmt an, dass VR in seiner aktuellen Form jetzt oder in den nächsten Jahren eine Relevanz für den Massenmarkt haben wird. Es ist ein Nischenprodukt und das wird es sehr wahrscheinlich auch noch eine Weile bleiben. Dass sich trotzdem einige dafür begeistern, bereit sind Zeit und Geld dafür zu investieren – egal ob Spieler auf der einen oder Entwickler/Publisher auf der anderen Seite – möge man denjenigen doch bitte einfach gönnen. Valve z.B. ist am Thema VR sehr interessiert, sieht darin (langfristiges) Zukunftspotenzial und darum hat man diesen reinen VR-Titel entwickelt. Auch, wenn man damit kein Geld verdienen wird, denn selbst optimistisch geschätzt wird der Titel niemals die Entwicklungskosten einspielen. Nicht zuletzt, weil man ihn an alle Valve Index Headset- und/oder Controller-Besitzer „verschenkt“. Richtig gelesen, wer ein Index Headset oder die Index Controller bei Steam bestellt (hat), bekommt den Titel oben drauf.

Trotzdem werden sich einige natürlich darüber ärgern, dass sie ohne kostspielige VR-Hardware nicht zum Zug kommen. Verständlich, aber Stimmen, die meinen, dass man doch einfach eine VR-lose Umsetzung anbieten soll, muss man jegliches Verständnis für das Spiel im Speziellen und VR im Allgemeinen absprechen. Ohne die VR-Headset bedingte Immersion, ohne die Möglichkeiten der VR-Controller und ohne das entsprechende Gameplay wäre es schlichtweg ein ganz und gar anders Spiel. „Tür mit der Hand einen Spalt aufdrücken; reinspähen, vor Gegnerhorde erschrecken; Granate scharf machen, reinwerfen und Tür schnell wieder zu“ lässt sich zum Beispiel nicht mal eben auf Maus & Tastatur mappen …

FAZIT

Nein, es ist nicht Half-Life 3, aber das ist gut so. Half-Life: Alyx ist ein eigenständiger, vollwertiger und vor allem großartiger (VR-)Titel. Es ist wichtig und richtig von Valve zu zeigen, dass für VR auch solche Titel möglich sind. Aber egal wie gut er auch ist, er wird die VR-Spiele nicht aus ihrem Nischendasein herausführen. Muss er aber auch nicht, denn gelegentlich sind Entwicklungen abseits des Massenmarkts notwendig, denn sie sind Voraussetzungen für jede Form von Innovation und Fortschritt.

Natürlich kein wirklicher Trost für jene, die den VR-Titel nicht spielen können oder wollen, ich weiß. Aber ein finaler Twist wird die Gerüchteküche, woran Valve (vielleicht) noch so werkelt, mal wieder kräftig anfeuern. Denn auch, wenn eingangs betont wurde, was Alyx NICHT ist, hängt doch alles irgendwie zusammen. Und jetzt entschuldigt mich, ein seltsamer Typ mit Aktenkoffer wartet auf mich.

Was ist Half-Life: Alyx? Der erste ausgereifte und vollwertige AAA-VR-(Action)-Titel
Plattformen: PC (+ SteamVR-kompatibles VR-System)
Getestet: Version 1.1 auf Valve Index
Entwickler / Publisher: Valve
Release: 23. März 2020
Link: Offizielle Webseite

Gesamtwertung: 10.0

Einzelwertungen: Grafik: 10 | Sound: 10 | Handling: 10 | Spieldesign: 10 | Motivation: 10

Passende Beiträge

Men of War II im Test

Cyber Manhunt 2 : New World im Early Access Test

CHERRY XTRFY K5V2 Gaming-Tastatur im Test