In dem neuen Point&Click-Adventure aus Deutschland schlüpfen wir in die Rolle von Kommissar Joseph Kreiser, der im Leipzig des ausgehenden 19. Jahrhunderts vier knifflige Kriminalfälle aufklären muss. Der wichtigste Verbündete ist dabei sein treues Notizbuch.
Eine Stadt im Umbruch
Hufgeklapper auf den Pflastersteinen, die dampfenden Lokomotiven im Hauptbahnhof und das streng hierarchische Treiben in den Amtsstuben. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert ist der schwelende Umbruch auch in Leipzig überall greifbar. Einerseits dringen technische Neuheiten wie das Telefon oder Automobile in den Alltag der Menschen vor, ferner sorgen Gewerkschaften und Bürgerrechtsbewegungen für ein Aufbrechen von bisherigen politischen und gesellschaftlichen Strukturen.
Gregor Müller, der kreative Kopf hinter Casebook 1899 – The Leipzig Murders, nimmt uns mit auf eine Reise in dieses spannende Zeitfenster seiner Heimatstadt. Dabei basiert sein Erstlingswerk auf den Kriminalromanen „Leipziger Zeitenwende“ und „Völkerschau“, welche er geschrieben hat und über den GMEINER-Verlag beziehbar sind. Vorkenntnisse aus den Büchern setzt das Spiel aber nicht voraus.
Über eine Kickstarter-Ausschreibung konnte sein Point&Click-Adventure schlussendlich realisiert werden, ab 4. September ist der Titel über Steam verfügbar.
Neulich in der Schreibstube…
Die Geschichte beginnt im Sommer des Jahres 1899 in einer Wohnung in Leipzig. Dort wartet die alte Frau Faber gemeinsam mit ihrem Hausmädchen Gretchen ungeduldig auf die Ankunft ihres Untermieters, dem Kommissar Joseph Kreiser. Für Kreiser sind die heutigen Vorschriften zum Datenschutz noch nicht bindend und so berichtet dieser regelmäßig nach Dienstschluss freimütig von den Kriminalfällen des zurückliegenden Tages.
In seinem ersten Fall geht es um den Fahrer eines neumodischen Automobils, der verstarb, nachdem sein Gefährt ungebremst von der noch unfertigen Könneritzbrücke ins Wasser stürzte. Unterstützt wird der Kommissar bei seinen Ermittlungen von Staatsanwalt Gustav Möbius. Dieser begleitet ihn überall hin und hat dabei auch zwei wichtige spielmechanische Funktionen. Falls man nicht weiter weiß, fungiert er als Tippgeber. Zudem kann über den Staatsanwalt eine genretypische Hotspot-Einblendung angestoßen werden. Statt recht umständlich über ein Gespräch mit ihm, kann dies aber auch über die Leertaste erfolgen. Zwar dient Möbius in Gesprächen ab und an als Sidekick, regulär sprechen kann man mit ihm aber nicht. Das ist etwas schade, weil so die angedeutete Sympathie zwischen den beiden Männern nur rudimentär über das Spiel und das eigene Erleben unterfüttert wird.
Grundsätzlich halte ich es dem Titel aber zugute, dass sich die vier Kriminalfälle angenehm klassisch spielen. Man lernt den Kommissar in den sechs bis acht Stunden Spielzeit nur von seiner dienstlichen Seite kennen, unpassende Ausflüge ins Private und möglicherweise die Liaison mit der Tochter einer Unterweltgröße muss man hier nicht befürchten. Zunächst wird der Ort des Geschehens untersucht, mit Zeugen gesprochen und interessante Gegenstände aufgehoben sowie im Inventar näher untersucht. Über die Gespräche oder sonstige Hinweise werden weitere Handlungsorte in Leipzig freigeschaltet, die dann zu Folgeermittlungen führen.
Ein wichtiges Feature und das stärkste Element von Casebook 1899 – The Leipzig Murders ist das namensgebende Notizbuch des Kommissars. In diesem hält Kreiser wichtige Beobachtungen fest. Dies ist aber kein starres System, sondern die aufgedeckten Indizien lassen sich über Drag & Drop kombinieren, was dann zu Schlussfolgerungen führt, die ein eigenes Schaubild zum Tathergang dynamisch entstehen lassen. Dabei muss man sich öfters entscheiden, wie man ein gewisses Geschehnis interpretiert, was durchaus zu einer Neubewertung des Falles führen kann. Sind genügend Hinweise gesichtet, hat man sich dann zu entscheiden, wen man als Täter bzw. Täterin benennt. Das Spiel macht es einem dabei nicht einfach, denn die oft sehr verzweigten und gut geschriebenen Fälle lassen doch auch Raum für Unsicherheiten und Interpretationen. Am Schluss eines Falles landet man wieder bei Frau Faber, die die Ermittlungen kritisch hinterfragt und vielleicht auch noch die ein oder andere Lücke bei der Bewertung des Falles offenlegt. Vereinzelt werden auch Minispiele eingestreut. Dies nicht oft und auch so, dass diese immer überspringbar sind. Neben reinen Aufgaben zu den Ermittlungen gibt es auch Rätsel, die zur Auflockerung gedacht sind. So verrät ein hungriger Zeuge erst etwas, wenn man ihm sein Pausenbrot von einem Gerüst holt oder ein Ring muss von einer diebischen Elster zurückerlangt werden. Das ist alles nicht sonderlich schwer aufzulösen, mir persönlich hätte es aber mehr zugesagt, wenn der auf historische Korrektheit und Ernsthaftigkeit begründete Grundton des Spiels auch hier konsequent durchgehalten worden wäre.
Das Ermitteln selbst macht Spaß. Es ist zwar durchaus repetitiv, mit Zeuge A zu sprechen und mit den Aussagen dann auf Zeuge B, C und D zugehen zu müssen. Den ein oder anderen Laufweg kann ich einem Krimi-Adventure aber nicht übelnehmen, zumal der daraus entstehende Fortschritt über die Notizbuch-Mechanik sich wirklich gut und verdient anfühlt. Dem Spiel kommt deutlich die akribische Recherchearbeit seines Entwicklers für seine Bücher zugute, bei welchen unter anderem auch Ermittlungsakten historischer Mordfälle zur Rekonstruktion der damaligen Polizeiarbeit von ihm beigezogen wurden.
Viel Atmosphäre, wenig Hochglanz
Detailgetreu nachgestaltete Orte wie eine Zeitungsredaktion oder der private Garten eines Industriellen wirken historisch korrekt, visuell aber etwas angestaubt. Wer an moderne Indie-Adventures mit HD-Assets gewöhnt ist, muss sich auf einfache 2D-Pixeloptik einstellen, die trotz aller Mühe ein wenig bieder wirkt.
Dafür trägt die musikalische Untermalung maßgeblich zur Stimmung bei. Zu hören ist ein sehr schöner wie prägnanter Soundtrack, dessen Mischung aus Melancholie und Spannung das historische Treiben in Leipzig perfekt einfängt.
Ein Plus ist auch die komplette deutsche Vertonung – allerdings mit Einschränkungen. Während die Hauptfigur gut eingesprochen ist, wirken die Stimmen mancher Nebencharaktere unpassend, etwa weil diese zu jung für ihre Rollen klingen oder zu nüchtern ihre Textzeilen vortragen. Bei einem so dialoglastigen Spiel wie diesem ist das natürlich schade. Aus meiner Sicht eine verpasste Chance ist, dass alle Charaktere lupenreines Hochdeutsch sprechen. Der Entwickler geht hier zwar bewusst auf Nummer sicher, ein osterländischer Dialekt bei einzelnen Figuren wäre bei seinem großen Bemühen um Authentizität aber eigentlich nur folgerichtig gewesen.
Technisch wirkt Casebook 1899 – The Leipzig Murders zum Zeitpunkt des Erscheinens noch etwas ungeschliffen. Textbugs findet man öfters. So blendet der Titel Texte ein, die durch den Spielfortschritt bereits überholt sind oder vertauscht bei Entscheidungen einzelne Grafiken. Das ist aber alles recht einfach zu beheben. Zu Abstürzen kam es während des Spielens dagegen nie.
Zusammenfassung
FAZIT
Casebook 1899 – The Leipzig Murders punktet in seinen Kernanliegen. Das alte Leipzig wird durch die historisch akkuraten Schauplätze und die Einblicke in den damaligen Alltag der Menschen im Deutschen Kaiserreich zum Leben erweckt. Auch die lineare Abarbeitung der vier Kriminalfälle spielt sich durch die dynamische Notizbuch-Funktion glaubwürdig und motivierend. Bedauerlicherweise wirkt manches im Spiel noch arg ungeschliffen. Auch bei der Tonalität hätte ich mir einen stringenteren Ansatz gewünscht. Dennoch können besonders historisch interessierte Krimi-Fans ohne Bedenken die Kutschfahrt nach Leipzig buchen.

