Mit Europa Universalis V erhebt Paradox Interactive einen selbstbewussten Anspruch: „the grandest grand strategy game ever made“. Der am 4. November erschienene Titel kombiniert historische Authentizität, gesellschaftliche Dynamiken und spielerische Freiheit auf eine Weise, die bisher unerreicht war.
Europa Universalis V ist ein gewaltiges Strategiespiel, das mit seiner verschwenderischen Detailtiefe begeistert, aber auch aneckt.
Alle Macht dem Volke
Entwickelt wurde Teil 5 von Paradox Tinto, jenem Team aus Barcelona, das sich seit seiner Gründung 2020 ganz auf die Weiterentwicklung der Europa-Universalis-Reihe spezialisiert hat. Das Studio entstand aus dem Kernteam, welches Europa Universalis IV über Jahre mit Erweiterungen und Patches gepflegt hatte.
Das Spiel beginnt im Jahr 1337 und führt bis weit in die Frühe Neuzeit hinein. Damit deckt es die gesamte Übergangszeit vom Spätmittelalter über Renaissance und Reformation bis zum Zeitalter des Kolonialismus ab. Die Weltkarte ist dabei größer, detaillierter und geographisch präziser als je zuvor.
Neu ist vor allem die Art, wie das Spiel den Wandel der Welt modelliert. Statt der Verwaltung abstrakter Provinzwerte gibt es jetzt die aus Victoria 3 bekannten „Pops“. Diese gesellschaftlichen Gruppen besitzen eigene Religion, Kultur, Beruf und Bedürfnisse. Steuern, Arbeitskraft, Zufriedenheit und sogar militärische Stärke hängen direkt von ihnen ab. Damit entsteht eine organische Spielwelt, in der politische und soziale Entscheidungen tiefgreifende Folgen haben und ineinandergreifen. Eine zu hohe Steuerlast kann Aufstände provozieren, religiöse Spannungen können das Land spalten, wirtschaftliche Fehlentwicklungen ganze Regionen verarmen lassen.
Adel, Klerus, Bürgertum und Bauern haben eigene Ansprüche, Ideologien und Agenden. Ihre Interessen beeinflussen Gesetzgebung, Außenpolitik und sogar die Nachfolgefrage. Damit fühlt sich Innenpolitik lebendiger und dynamischer an als je zuvor.
Das Reich wird zu einem empfindlichen Gefüge, dessen Balance ständiger Aufmerksamkeit bedarf – faszinierend, aber auch gnadenlos komplex.
Strategische Urgewalt mit menschlichem Antlitz
Wer bereits Crusader Kings 3 mit seinen vielfältigen Formen des Ränkespiels gespielt hat, wird sich über die komplexer dargestellten Charaktere freuen: Herrscher und Vasallen haben individuelle Eigenschaften, Fraktionen buhlen um Einfluss. Religion ist weit mehr als nur ein abstrakter Zahlenwert, sondern ein gewichtiger Machtfaktor.
Mit all diesen Neuerungen versucht Europa Universalis V dosiert seiner Spielwelt ein Gesicht zu geben, ohne den starken Fokus auf Makropolitik zu verlieren. Denn machen wir uns nichts vor: Hinter all den schicken 3D-Porträts und kleinen Charaktergeschichten verbirgt sich nach wie vor das bekannte Paradox-Kernstück – ein gewaltiger Apparat aus Tabellen, Statistiken und Schiebereglern, der unbedingt beachtet und bedient werden will. Man sollte wie auch bei Stellaris oder Victoria 3 die Fähigkeit besitzen, die vielen abstrakten Elemente des Titels in der eigenen Vorstellung zu einer schlüssigen Erzählung zusammenzusetzen.
Das macht den Reiz, aber auch den Schrecken des Spiels aus: Wer Europa Universalis V spielen will, muss bereit sein, sich in seine Systeme einzuarbeiten. Zwar führen Tutorials und Tooltips kompetent in die Grundlagen ein, doch wer die komplexen Zusammenhänge zwischen Bevölkerung, Wirtschaft, Religion und Diplomatie wirklich durchdringen will, wird viel Zeit – und Geduld benötigen.
Darin liegt jedoch auch der Reiz. Jeder Fortschritt, jedes neu verstandene System, jedes einzelne Vorankommen erzeugt ein äußerst befriedigendes Gefühl. Unterstützt wird das auch dadurch, dass das Spiel sehr feingliedrig die Automatisation von Aufgaben erlaubt. So kann man entweder ungeliebte Pflichten an den Rechner delegieren oder aber auch mit wachsender Spielerfahrung die Unterstützung nach und nach zurückfahren.
Ganzheitlich gedacht
Auch die Wirtschaft wurde umfassend überarbeitet. Produktionsketten, Handelsrouten und Ressourcenflüsse greifen enger ineinander, während regionale Spezialisierungen stärker ins Gewicht fallen. Eine wohlhabende Handelsstadt wie Venedig spielt sich völlig anders als ein landwirtschaftlich geprägtes Reich. Das erinnert an die ökonomische Detailliebe aus Victoria 3, bleibt aber eng mit der geopolitischen Ebene verknüpft.
Erfolgreiches Wirtschaften bedeutet nicht mehr nur, Geld anzuhäufen – es geht um gesellschaftliche Stabilität, Arbeitskräfteverteilung und strategische Kontrolle über Rohstoffe. Das macht die Ökonomie zu einem gleichberechtigten Machtfaktor neben Militär und Diplomatie.
Die Diplomatie folgt dieser neuen Logik: außenpolitische Entscheidungen sind nun stets auch Ausdruck innerer Kräfteverhältnisse. Ein expansionsfreudiger Adel drängt auf Kriege, während bürgerliche Fraktionen lieber in Handel und Infrastruktur investieren möchten. Diese Balance zwischen innenpolitischem Druck und außenpolitischer Opportunität macht jede Allianz, jede Kriegserklärung und jeden Friedensschluss zu einem echten Abwägen. Diplomatie wird so zum Spiegel gesellschaftlicher Realitäten – und fühlt sich insgesamt glaubwürdiger an als in früheren Teilen.
Das überarbeitete Kampfsystem bleibt Paradox-typisch abstrakt, wirkt aber etwas dynamischer. Heere werden nun direkt aus der Bevölkerung rekrutiert, was den Kriegsaufwand stärker an den gesellschaftlichen Rückhalt bindet. Ein verlustreicher Feldzug kann nicht nur das Heer schwächen, sondern auch die Bevölkerung verarmen lassen und damit Revolten im Innern entfachen.
Diese Verknüpfung von Krieg und Gesellschaft erinnert in ihrer Konsequenz an Victoria 3.
Wer unbedacht expansionistisch agiert, riskiert den inneren Zerfall.
Bei der Steuerung der Truppen hingegen hat man sich stark an Crusader Kings 3 orientiert. Die Kriegsführung ist jedoch einer der schwächeren Spielelemente. Hier bleibt der Titel sehr generisch und lässt die sonst so eindrucksvolle Tiefe vermissen. Oft entscheidet die schiere Masse eines Heeres über Sieg oder Niederlage. Echte strategische Eingriffsmöglichkeiten und ein sinnvoller Einsatz von Taktiken fehlen dadurch. Die KI zeigt sich zudem nicht immer souverän: Passivität, umständliche Marschrouten oder fehlerhafte Angriffsentscheidungen stören gelegentlich die Immersion.
Umbruchserleben
Ein Herzstück von Europa Universalis V sind die zahllosen historischen Ereignisse, die der Spielwelt Dynamik und Authentizität verleihen. Paradox Tinto hat hier enorm viel Feinarbeit geleistet: von der Pest des 14. Jahrhunderts über den Fall Konstantinopels und den Aufstieg der Kolonialreiche bis hin zu den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts – all diese Umbrüche werden nicht nur als simple Textfenster präsentiert, sondern greifen tief in das Spielgeschehen ein.
Die Reformation verändert religiöse Machtblöcke, Entdeckungen eröffnen neue Handelsrouten, und die kolonialen Ambitionen führen zu moralischen wie wirtschaftlichen Dilemmata. Besonders eindrucksvoll sind die mehrstufigen Ereignisreihen, die ganze Epochenwechsel markieren. Ob der Spieler als Frankreich den Absolutismus fördert oder als England den Parlamentarismus stärkt, jede Entscheidung beeinflusst langfristig die politische und soziale Struktur seines Reiches und das seiner Nachbarn.
Gemeinsam gestalten
Im Gegensatz zu früheren Titeln läuft die KI im Mehrspielermodus nun synchron auf allen Rechnern. Dadurch reduziert sich der Datenverkehr drastisch, und große Runden mit vielen Nationen oder Armeen bleiben stabil. Kommt es zu Verbindungsproblemen oder Out-of-Sync-Fehlern, hat der Host nun mehrere Optionen: Man kann das Problem ignorieren, die betroffenen Spieler schnell resynchronisieren (wie in Hearts of Iron IV), sie temporär ausschließen oder das Spiel ganz beenden. Zudem lassen sich Spieler, die die Verbindung verloren haben, später wieder per Hotjoin in die laufende Sitzung zurückholen.
Das Wertungssystem orientiert sich an Europa Universalis IV: Punkte gibt es je nach Platzierung der Nation in den administrativen, diplomatischen und militärischen Rankings. Auch die bekannten Victory Cards kehren zurück. Diese speziellen Karten markieren Gebiete, deren Eroberung einem Spieler zusätzliche Siegpunkte bringt – oft direkt in Regionen, die bereits einem Rivalen gehören. Damit erzeugen sie gezielte Konfliktherde und machen Partien spannender und dynamischer.
Licht und Schatten
Die hauseigene Clausewitz-Engine wurde für Europa Universalis V weiter fortentwickelt. Die Weltkarte erstrahlt in neuer Farb- und Tiefenpracht, Städte wachsen sichtbar, Armeen marschieren über detailreiche Landschaften und die dynamische Beleuchtung sorgt für realistische Jahreszeiten.
Technisch läuft das Spiel solide, wenn auch nicht makellos. Es treten gelegentlich Performance-Einbrüche in späten Spielphasen auf. Anders als in früheren Versionen kam es beim Test jedoch zu keinerlei Abstürzen.
Die Mindestanforderungen sind durchaus anspruchsvoll: Intel Core i7-8700K oder Ryzen 5 3600, 16 GB RAM und mindestens eine GTX 1060 (6 GB) oder RX 580 (8 GB). Für stabile Performance empfiehlt der Publisher eher aktuelle Mittel- bis Oberklasse-Grafikkarten (RTX 3060 Ti oder RX 6700 XT) und 32 GB Arbeitsspeicher.
Neben Performance-Problemen stolpert man regelmäßig über viele kleinere Bugs und Unschönheiten wie fehlerhafte Tooltips, KI-Aussetzer, unklare Ereignisbeschreibungen oder Logikfehler bei diplomatischen Aktionen. Leider auch auffällig ist die deutsche Übersetzung, die an vielen Stellen noch unfertig wirkt – von unglücklichen Satzstellungen bis zu unübersetzten Menütexten ist hier alles dabei.
Die Entwickler von Paradox Tinto haben allerdings zügig reagiert. Der Patch v1.0.2 besserte bei Stabilität, KI-Verhalten und Lokalisierung massiv nach. Im offiziellen Paradox-Forum wurden zudem weitere Fehlerbehebungen und Balance-Anpassungen angekündigt.
Der orchestrale Soundtrack von Andreas Waldetoft trägt wie auch in anderen Paradox-Titeln erheblich zur Atmosphäre bei. Epische Themen, Chöre und leise Streicherstücke begleiten das Fortschreiten der Weltgeschichte unaufdringlich aber dennoch für Land und Epoche prägnant.
Zusammenfassung
FAZIT
Europa Universalis V ist ein Titel, der imponiert. Mutig widerstanden die Entwickler der Versuchung, durch Vereinfachungen der Inhalte neue Zielgruppen zu erschließen. Stattdessen vertieft das Spiel gezielt seine Mechaniken und verwebt diese überaus elegant mit Elemente aus Victoria 3 und Crusader Kings 3.
Entstanden ist ein Spiel von gewaltiger Größe, Komplexität und historischem Anspruch – öfters unübersichtlich, manchmal überfordernd, aber immer beeindruckend in seinem Anspruch. Wer sich darauf einlässt, erlebt eines der ambitioniertesten Strategiespiele der letzten Jahre.

